Fallbeispiele: Deutsches Arbeitsschutzrecht für Geflüchtete
Fall 1: Der Arbeitsvertrag
Murat (M) ist 25 Jahre und aus Syrien. Er hört davon dass einem Bäcker, der mehrere Filialen betreibt, einen Fahrer sucht. Er stellt sich beim Chef vor. Dieser erklärt, „OK Du kannst ab 01.04.2018 mal zur Probe fahren. Du fängst um 5 Uhr morgens an“. Mehr wird nicht gesprochen.
M ist glücklich und meldet sich zu diesem Datum morgens um 5 Uhr in der Zentrale. Der zuständige Meister gibt ihm den Fahrzeugschlüssel und erklärt ihm die Strecke, die er fahren muss um die 15 Filialen zu beliefern. M schafft die Aufgabe in 6 Stunden. Das ist etwas langsamer als normal, da er mit der Verständigung in den Filialen noch Schwierigkeiten hat. Abends gibt er den Schlüssel ab. Der Chef sagt zu ihm „wegen mir kannst Du morgen wieder kommen.“ M tut das und erscheint auch die folgenden Tage immer um 5 Uhr morgens. Er bekommt den Fahrzeugschlüssel vom Chef persönlich und macht die Tour. Jeweils 6 Stunden Montag bis Samstag. Nach einer Bezahlung fragt er nicht, da er Angst hat, dass er sonst weggeschickt wird.
Nach 8 Wochen traut er sich allerdings und fragt „Chef wann bekomme ich denn einen Arbeitsvertrag?“ Der sagt nur „Das war doch zur Probe. Leider bist Du nicht schnell genug. Ich kann Dich nicht einstellen.“
M ist total enttäuscht und berät sich mit einem Kollegen, der ebenfalls aus Syrien stammt. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass M reingelegt worden ist. „Da der Chef keinen Arbeitsvertrag unterschrieben hat kannst Du auch kein Geld verlangen.“
Frage: Ist dies richtig?
Antwort: Nein!
1) Ein Arbeitsvertrag muss in Deutschland nicht schriftlich geschlossen werden.
2) Es reicht aus, dass der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sich mündlich einig werden.
3) Es reicht sogar, wenn der Arbeitnehmer im Betrieb tätig wird und dies dem Chef bekannt ist. (faktisches Arbeitsverhältnis)
Fall 1a) Der Mindestlohn
M wird tatsächlich angestellt. Er bekommt nach einem Monat eine Lohnabrechnung aus der sich ergibt, dass er einen Stundenlohn von 6 Euro hat. Er berät sich mit seinem Freund F, der schon mehrere Jahre in Deutschland lebt. Dieser ist der Meinung, das sei OK, da über die Bezahlung nicht gesprochen wurde. „Da kann der Chef zahlen was er will“ ist seine Antwort.
Frage: Ist dies richtig?
Antwort: Nein !!!
1) In einem Arbeitsverhältnis gelten automatisch die deutschen Arbeitsgesetze, ohne dass vorher darüber gesprochen wurde.
2) Es gilt hier das Gesetz über den Mindestlohn. Dieser liegt aktuell bei 8,84 Euro pro Stunde.
3) Diesen Betrag muss der Chef mindestens zahlen, auch wenn über die Höhe der Vergütung nicht gesprochen wurde.
Welche Ansprüche auf Bezahlung hat M also?
Lösung: 8 Wochen X 6 Tage (Montag bis Samstag) X 6 (Stunden) X 8,84 Euro = 2545,92 Euro
Frage: Hat er noch weitere Ansprüche?
Antwort: Ja
1) In einem Arbeitsverhältnis gelten automatisch ganz viele Gesetze, die den Arbeitnehmer schützen.
2) Zum Beispiel das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG), auch wenn nie über Urlaub gesprochen worden ist.
3) Nach diesem Gesetz hat ein Arbeitnehmer, der 6 Tage die Woche arbeitet, einen Anspruch auf 24 Tage Urlaub im Jahr.
4) Arbeitet er weniger als ein Jahr, so hat er Anspruch auf 2 Tage pro Monat. Hier also 4 Tage in zwei Monaten.
5) Kann der Urlaub nicht genommen werden, weil das Arbeitsverhältnis -wie hier- beendet ist, so hat er einen Anspruch auf Bezahlung. (Urlaubsabgeltung)
Lösung: 4 Tage (Urlaubsabgeltung) X 6 (Stunden) X 8,84 Euro= 212,16 Euro.
M kann also von seinem früheren Chef folgende Zahlungen verlangen, obwohl er keinen schriftlichen Arbeitsvertrag hatte und der Chef der Meinung ist, das wäre alles nur zur Probe gewesen:
Lohn April und Mai: 2545,92 Euro
Urlaub Abgeltung: 212,16 Euro
Summe: 2758,08 Euro
Verfasser: Hans-Otto Morgenthaler
Selbständiger Rechtsanwalt seit 1978.
Fachanwalt für Arbeitsrecht seit 1992.
Website: www.arbeiten-in-deutschland.com