Ilona Scheidle zu Gast beim alvivi Magazin: 5 Jahre nach dem Ankommen
Die neue Ausgabe der alvivi-Magazin-Sendung widmet sich dem Thema "5 Jahre nach dem Ankommen". Vielleicht erinnert ihr euch? Mohammad hatte euch im Sommer von unserem Video-Format berichtet, das wir dazu entwickelt haben.
In unserem neuen alvivi-Magazin haben wir die spannendsten Momente aus unseren Interviews zusammengestellt. Außerdem begrüßen wir die Ilona Scheidle als Gast in unserem Studio.
Frau Scheidle arbeitet als freie Historikerin beim Deutsch-Türkischen Institut für Arbeit und Bildung in Mannheim. Das Projekt "Mannheimer Bildungsgeschichten" sind dort Teil ihrer Arbeit. In diesem Zusammenhang ist Frau Scheidle sogar ein Urgestein der baden-württembergischen Frauen- und Geschlechtergeschichte: Seit 30 Jahren führt sie bei Rundgängen durch die Heidelberger und Mannheimer Frauenstadtgeschichte, veröffentlicht Aufsätze zum Thema und ist dazu aktuell auch beschäftigt beim Baden-Württembergischen Archiv in Tübingen.
Beim Klick auf das Bild kommt ihr zum Video auf dem Youtube-Kanal von alvivi. Mohammads Interview mit Frau Scheidle könnt ihr weiter unten auch nachlesen.
Mohammad: Frau Scheidle, das klingt alles sehr interessant und spannend! In unserer neuen Magazin-Sendung gibt es einen Beitrag, in dem Geflüchtete, die 2015 kamen, von ihren Vorstellungen über Deutschland erzählen. Viele Menschen, die nach Deutschland kommen, haben tatsächlich die Vorstellung, dass sie hier alles erreichen können. Wie realistisch ist das aus Ihrer Sicht? Und was hilft einem in Deutschland dabei, seine Ziele zu erreichen?
Ilona Scheidle: Bildung ist eine zentrale Komponente, eine ganz zentrale Möglichkeit, um hier anzukommen. Das fängt ja schon mit dem Spracherwerb an. Wir haben 2019 bei den Mannheimer Bildungsgeschichten Interviews gemacht mit Menschen, die auch mit Fluchthintergrund nach Deutschland gekommen sind. Die Interviews haben gezeigt: Die Möglichkeit, sich über Bildung in die Gesellschaft einbringen zu können, eröffnet Wege. Es ist eine Herausforderung zu sehen – auch wenn ich abweichend bin durch Herkunft, Geschlecht, Sprache, wie auch immer –, dass Bildung den Weg öffnet. Oder dass vermeintliche Barrieren und Hindernisse Potenziale sein können. Ganz wichtig ist auch zu verstehen, dass niemand alleine ist als Mensch der nach Deutschland kommt und der sich hier neu orientieren muss. Es gibt hier Strukturen, die helfen: Auch zugewanderte Menschen können Beratungs- und Bildungsangebote nutzen.
Mohammad: Es gibt viele positive Angebote aus dem Bildungsbereich, aber trotzdem gibt es Schwierigkeiten und Probleme: Lilyan Allababidi berichtet in unserer Sendung zum Beispiel von dieser Situation: Der Lehrer erklärt etwas, aber nur mündlich. An die Tafel schreibt er nichts. Für Menschen ohne Deutsch als Muttersprache kann es schwierig sein, dann noch mitzukommen. Kennen Sie aus Ihrer Arbeit noch weitere schwierige Situationen? Welche Lösungen gibt es dafür?
Ilona Scheidle: Im alvivi-Magazin bringen die Interviewten tolle Beispiele. Es gibt auch diese Situationen: Ein junger Mann ist überrascht, zusammen mit jungen Frauen im Unterricht zu sein. Genauso gibt es junge Frauen, die sich wundern, dass sie mit Jungs in einer Klasse sitzen. Oder das Beispiel einer Frau, die benennt, dass es keine Folter gibt hier in Deutschland. Solche Beispiele hier in Deutschland zu hören als jemand, die als Deutsche geboren wurde, ist ein Signal. Es macht deutlich, welche hohen Standards an Möglichkeiten vorhanden sind.
Wenn von außen junge Menschen in eine völlig fremde Kultur kommen, ist das natürlich eine große Herausforderung. Sei es sprachlich, kulturell, im alltäglichen Umgang mit Mitmenschen – es ist nicht immer einfach, sich dort einzufügen. Man muss ja eine Leistung erbringen. Wie weit passe ich mich an? Was sind die Standards hier überhaupt? Wie gehe ich mit ihnen um, mit meiner Umgebung in der neuen Klasse? Was in den alvivi-Interviews aus der Magazinsendung deutlich wird: Es sind Alltagshürden, die zugewanderte Menschen haben. Die Interviewten konnten diese in ihren 5 Jahren in Deutschland bewältigen. Sonst hätte Lilyan zum Beispiel ja auch gar nicht so klar und konkret das Problem benennen können.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Segment Bildung sehr weit gefächert ist. In der Schule erfolgt Bildung formal mit einem Abschluss. Es müssen bestimmte Dinge und kognitive Leistungen erbracht werden. Bildung hat aber noch viel mehr mit Persönlichkeit, Entwicklung, sozialer und praktischer Intelligenz zu tun. Es gibt also ganz viele Felder, die positiv formuliert von allen Menschen, die hier ankommen, und auch von der Gesellschaft hier aufgegriffen werden können. Wenn Fragen wie mangelnde Sprache, der Ankommensprozess, andere Umgangsstandards oder die Frage, ob Männer und Frauen in einem Raum lernen sollen, thematisiert werden und Lösungen entwickelt werden, dann machen das die Schüler nicht allein. Sie machen das im Verbund gemeinsam mit vertrauten Menschen.
In Mannheim ist zum Beispiel das Café Filsbach ganz zentral beim Projekt "Mannheimer Bildungsgeschichten" gewesen. Junge Menschen haben dort von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen Unterstützung bekommen. Es wurden und werden Strategien entwickelt, die Alltagshürden entgegenwirken. Im Café Filsbach wird den jungen Menschen klar gemacht, dass ihre Hürden dort ausgesprochen werden dürfen und ernst genommen werden. Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen geben Anregungen oder holen jemanden dazu, der konkret helfen kann. Nicht nur der lernenden Person, sondern bei Bedarf auch deren Eltern oder einer bestimmten Gemeinschaft. Lösungsstrukturen werden auch immer wieder überarbeitet. Alltagsprobleme, von denen Lilyan zum Beispiel berichtet, werden auch in der Lehrkräfteausbildung im Bereich Schule berücksichtigt und aufgegriffen, damit sich diese Vorkommnisse ändern und sich auflösen. Mit dem Ziel, dass die Mehrheitsgesellschaft und die Neuankommenden miteinander Ergebnisse finden. Es sind immer wieder Übersetzungsleistungen nötig an unterschiedlichen Verknüpfungsstellen.
Unsere Gesellschaft wird bunter, es gibt eine Vielfalt an Realitäten zur gleichen Zeit an einem Ort. Das Das Buntsein muss akzeptabel werden. Dann wird unsere Gesellschaft, auch Mannheim und Ludwigshafen, für Zugewanderte auch zur Heimat.
Mohammad: Das wünschen wir uns auch. Vielen Dank, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben!